Die Stunde der Null

 

Im indischen Gwalior gibt es außer zwei großartigen Palästen einen kleinen Tempel mit einer beeindruckenden Erfindung zu entdecken.

„Was sucht ihr? Eine Null?“ Verständnislos schaut unser gerade angeworbener Guide von einem zum anderen. Ja, wir suchen nicht eine Null, sondern die Null und ergänzen: „Wir suchen eine Steintafel, deren Beschriftung von einer Gartenanlage handelt, deren Länge und Breite 270 mal 187 hastas beträgt ...und die 50 Blumengirlanden für den Tempel produziert.“ Steintafel? Steintafel, nicken wir. Plötzlich strahlt unser Guide und erzählt, dass es unten am Eingang, am Gwalior Gate, ein Museum mit vielen Steintafel gebe, wo wir sicher unsere Null fänden. Aber jetzt sollten wir erstmal diesen schönen Palast besichtigen, mit ihm natürlich, einen besseren Guide würden wir nicht finden.


Gwalior Fort ist eine 2,5 km lange und durchschnittlich 300m breite Festungsanlage auf einem 100m hohen Felsen über der Stadt Gwalior. Die Ursprünge des Forts reichen zurück bis ins 8. Jahrhundert, der Legende nach sogar bis ins 3. Jahrhundert. Nach dem Gründer Suray Pal herrschten 84 Könige mit dem Namen Pal. Der Sohn des letzten Pals änderte seinen Namen – und verlor gemäß einer Prophezeiung das Reich. Ende des 14. Jahrhunderts kam die Tomar-Dynastie an die Macht und Gwalior erlebte unter Man Singh Tomar eine Blütezeit, der wieder eine wechselvolle Geschichte folgte, in der auch die Briten eine Zeit lang herrschten.


Beginnt man die Besichtigung am Urvai-Gate im Westen, so ist der Aufstieg etwas mühseliger, dafür kann man die in den Felsen gehauenen, bis zu 17m hohen Steinskulpturen jainistischer Lehrer bewundern. Im Fort selbst lohnen der Teli-Ka-Mandir aus dem 8. Jahrhundert einen Besuch, in dem die Briten zeitweise eine Sodafabrik und ein Cafe unterbrachten, der Sas-Bahn-Tempel (Schwiegermutter-, Schwiegertochter-Tempel) aus dem 10. Jahrhundert, und natürlich das von Man Singh von 1486 bis 1516 erbaute Prachtstück des Forts, der, man ahnt es schon, Man Singh Palast. Wir erfahren von unserem Guide, warum er auch Chit Mandir oder Painted Palace genannt wird. Er ist außen (auf mehreren Ebenen) reich mit Kacheln in türkis, grün und gelb verziert, auf denen Elefanten, Fasane, Krokodile, vor allem aber Enten (!) zu sehen sind.


Nun werden wir in den Palast geführt, der aus zwei unterirdischen und zwei oberirdischen Etagen besteht besteht, die um einen Innenhof errichtet wurden. Unser Guide ist jetzt voll in seinem Element. ( „Was nicht in euren Reiseführern steht...“ ) Er erklärt, wie über die 4 Etagen hinweg durch ins Mauerwerk eingelassene Rohre „telefoniert“ wurde, wie der Innenhof mit kühler Frischluft versorgt wurde und wie der Innenhof mittels Spiegel durch Sonne und Fackeln erleuchtet wurde, sodass sich der Maharadscha auch abends an Tanzdarbietungen erfreuen konnte. Schließlich gelangen wir in den Frauentrakt und erfahren, warum die Eingangstür so niedrig ist: Unser Guide geht voran und fordert uns dann auf, ebenfalls einzutreten. Mit gebeugtem Oberkörper trete ich ein und schon landet seine Handkante (sanft) auf meinem Nacken. „Wenn es ein Säbel gewesen wäre, wär der Kopf wohl ab“, grinst er. Mit sichtlich viel Spaß erzählt er nun die Geschichte der großen Liebe unseres Radscha: „Auf einer Jagdgesellschaft begegnete Man Singh, der sich mit gerade mal 8 Frauen begnügen musste, der schönen Mriganayani (die Rehäugige), die gerade mit zwei wilden Büffeln kämpfte. Der Radscha war angemessen beeindruckt und bat sie, seine 9. Frau zu werden. Die junge Frau war einer Heirat durchaus nicht abgeneigt. Sie stellte jedoch 3 Bedingungen: einen eigenen Palast (der Gujari Mahal) und einen Kanal, der sie täglich mit Wasser aus ihrem Heimatdorf versorgen sollte. Außerdem wollte sie keinen Schleier tragen und ihm überall hin folgen, auch in den Kampf. Kein Problem für den Radscha - und sie wurde sogar seine Lieblingsfrau, die ihm nicht in den Tod folgen musste wie ihre acht Kolleginnen“. Inzwischen wieder am Eingang angekommen, verabschieden wir uns und machen uns auf den Weg zu jenem Gujari Mahal, in dem das Museum untergebracht worden ist.

 

Kurz darauf stehen wir in einem Raum mit recht vielen, zu vielen Steintafeln. Keine Chance, jetzt und hier die Null zu finden. Dann die Idee – wir fotografieren alle Steintafeln, um später in Ruhe zu suchen. Leider sind auch die Museumswärter auf eine Idee gekommen und bringen uns zum Direktor. Aber auch der weiß nichts von der Null. Wir kriegen die Erlaubnis, im Archiv nachzusehen. Noch mehr Steintafeln. Wir fotografieren, bis der Blitz aufgibt und dann ist endlich Feierabend.


Am nächsten Morgen geht es zur zweiten großen Attraktion Gwaliors, dem Jai-Vilas-Palast der Familie Scindia. Erbaut wurde der Palast im mediterranen Stil in nur drei Jahren (1872 bis 1874), um den Prince of Wales standesgemäß zu begrüßen. Obwohl aus Sandstein gebaut, wurde er in einem blendenden Weiß gestrichen, sodass er wie Marmor glänzt. 35 Zimmer des Palastes wurden in das Scindia-Museum umgewandelt. 35 Zimmer! Wir nehmen wieder einen Guide, der uns zu den Hauptattraktionen bringen soll. Eine Treppe mit Kristallgeländer führt hinauf zur Durban Hall. Die Decke der Königshalle ist mit 500 kg Gold verkleidet. Unter ihr hängen zwei der schönsten und größten Kronleuchter der Welt, 12,5 m hoch, mit 56 kg des Edelmetalls vergoldet und mit 248 Kerzen ausgestattet. Das Gewicht beträgt über 3 t. Als Belastungsprobe wurden 10 Elefanten über eine zwei km lange Rampe auf das Dach geführt. Auf dem Boden liegt der größte Teppich Asiens, der, laut unserem Guide, in über zehn Jahren Handarbeit in einem Gefängnis in Gwalior gefertigt wurde. Ein Rolls Royce darf in einer solchen Sammlung nicht fehlen, aber es gibt auch eine Isetta (a German bubble car). Witzig ist die elektrische Modelleisenbahn auf dem Esstisch, die Brandy und Zigarren zu den Gästen bringt. Die Bahn stoppt automatisch, sobald ein Gegenstand angehoben wird. Und da ist die Marmorstatue der Leda in inniger Umarmung mit dem Schwan.

 

Erschöpft erklären wir unserem Guide, dass es genug sei, schließlich hätten wir gestern einen anstrengenden Tag im Museum auf der Suche nach der Null verbracht. Er schaut uns erstaunt an und sagt: “Ach, ihr sucht die Null! Nur, die Null ist doch gar nicht im Museum! Nein, die Null befindet sich in dem kleinen Tempel Chatur Bhuja aus dem 9. Jahrhundert auf dem Weg zum Man-Singh-Palast.“ Tempel? 9. Jahrhundert? Da müssen wir doch schon dran vorbei gelaufen sein.

 

Das Taxi braucht eine halbe Stunde, dann noch 10 Minuten zu Fuß bis zum Tempel und dann haben wir sie gefunden: die wohl älteste Darstellung der Null in Indien, so wie wir sie bis heute kennen, in der Form eines kleinen Kreises. Klein, unscheinbar und doch eine der beeindruckendsten Entdeckungen der Menschheit. Mit der Erfindung der Null entwickelt sich das Positions- oder Stellenwertsystem und unser Dezimalsystem. Die Steintafel in dem kleinen Tempel zeigt, dass das Dezimalsystem mit der Null in Indien schon im 9. Jahrhundert im alltäglichen Gebrauch war. Viel später gelangte das Dezimalsystem mit seinen Rechengesetzen von hier über Arabien nach Europa. Erst Ende des 12. Jahrhundert wurden die Rechenwerke ins Lateinische übersetzt und das Rechnen mit Ziffern setzte sich, wenn auch sehr langsam, in Europa durch.

 



Gwalior liegt im indischen Bundesstaat Madhya Pradesh. Als beste Reisezeit gilt September bis März. Es liegt zirka 360 km von Delhi entfernt, aber nur 150 km von Agra (Taj Mahal), einem der Touristenzentren Indiens. Gwalior ist von Agra aus gut mit dem Taxi zu erreichen, aber auch die Zuganbindungen sind gut, da es an der Bahnstrecke Delhi - Jhansi liegt.(www.indianrail.gov.in) Ein einfacher Flug von Delhi nach Gwalior kostet etwa 150 €. Hin- und Rückflug von Köln oder Frankfurt nach Delhi ab 700 €.

 

Übernachten:

 

Hotel Shelter, Tansen Rd ab 2000 INR;

 

Hotel Usha Kiran Palace, ab 8000 INR;

 

In beiden Hotels gibt es Restaurants.

 

1000 INR entsprechen 16,00 €

 

Von Gwalior lohnt ein Abstecher nach Orchha, mit einem Zwischenstopp in Datia, wo unser Altbundeskanzler Helmut Kohl schon gesichtet worden sein soll.

 

 

 

Anhang


Im Positionssystem bestimmt die Stelle die Wertigkeit einer Ziffer. Dabei ist die Null von entscheidender Bedeutung, wie sich am Beispiel 125 und 1205 erkennen lässt. Im Dezimalsystem erhöht die Null nach einer Ziffer die Wertigkeit dieser Ziffer jeweils zehnfach.

 


Schreibt man für 125


1 * 100 + 2 * 10 + 5 * 1

 


und für 1205

 

1 * 1000 + 2 * 100 + 0 * 10 + 5 * 1

 


so erkennt man, wie der Wert der Ziffern links von der Null durch ihr Einfügen steigt.

 

Selbst große Zahlen lassen in diesen System mit wenigen Ziffer schreiben und ihre Größe ist leicht zuerkennen. Aber vor allem erleichtert dieses System das Rechnen enorm.